Antlitze
Anja Verbeek von Loewis forscht in ihren Arbeiten nach nichts Geringerem als dem, »was die Welt im Innersten zusammenhält« (Johann Wolfgang von Goethe). Fasziniert vom Wesen menschlicher Existenz entwickelt sie verschiedene Herangehensweisen, um dem elementaren Drang Gestalt zu geben. Dabei spielen die Zeichnung und die Zeichen eine wesentliche Rolle. Paul Valéry beschreibt das Zeichnen in seinen Überlegungen zu Tanz, Zeichnung und Degas als einen willentlichen Akt: »Es besteht ein ungeheurer Unterschied zwischen dem bloßen Sehen einer Sache und dem Sehen, während man sie zeichnet. Oder vielmehr: es sind zwei sehr verschiedene Sachen, die man sieht. Selbst aus einem unsern Augen höchst vertrauten Gegenstand wird etwas völlig anderes, sobald man sich anschickt, ihn zu zeichnen [...] Man muss also wollen, in diesem Fall, um zu sehen, und dieses gewollte Sehen findet im Zeichnen sein Mittel zugleich und sein Ziel.« Der Zeichnende schreibt also das Gesehene seinen Linien ein, um es zu begreifen.
Im selben Moment ist es unmöglich, etwas wahrhaftig in der Linie zu fixieren, weil die Welt nicht statisch ist. Entsprechend unserer Perspektive nehmen wir Menschen und Dinge unterschiedlich wahr. Auch die Zeit bringt Verwandlungen mit sich.
Anja Verbeek von Loewis versetzt sich nun bewusst in diese paradoxe Situation: einerseits das Wesentliche des Menschen dingfest zu machen, und andererseits den fortwährenden Veränderungen Rechnung zu tragen. In der abgebildeten Arbeit überlagern sich gezeichnete Gesichter aller Arten auf hintereinander gestaffelten, transparenten Folien: Alte und junge Gesichter, weibliche und männliche, Profile und Frontalgesichter. Es hängt vom Standpunkt der/s Betrachter/in ab, welche Antlitze ineinander verfließen. Die Möglichkeiten sind unendlich. Neue Gesichter entstehen durch die Lebensalter hindurch. Zudem erlangen sie durch die Staffelung der Folien im Raum eine besondere Plastizität.
Katrin Dillkofer
Katalog, 2014