Energieträger zwischen Himmel und Erde
Sie schlängeln sich wie flüchtig auf einer Wasseroberfläche gezeichnete Lineaturen dahin oder steigen wie von beschwipsten Insekten fahrig in den Himmel geschriebene Flugbahnen auf: ganze Schwärme aus vielgestaltigen Zeichen erstehen vor unseren Augen. Das Flüchtige, Metamorphotische, Tänzerische ist den schwebenden und zauberisch inhaltsbefreiten Signaturen sozusagen inhärent. Zeitweilig glaubt man tatsächlich eine weit in die vierte Dimension geschraubte Bewegung zu erkennen. Aus dem mal mehr nebulös blauen, mal mehr höhlenartig verfinsterten Hintergrund scheinen dann gleichsam vage angedeutete Lineaturen an die Oberfläche zu drängen, während das Signifikantere im Vordergrund wundersamerweise im Fond der Lasuren zu versickern droht. Dass Anja Verbeek von Loewis leichthändig diese auch stark tiefenräumliche Suggestion des ständig Changierenden auf der planen Fläche der Leinwand oder auch des Papiers erzeugen kann, gehört zu den herausragenden Qualitäten ihrer Kunst.
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Die kalligraphischen Entsprechungen fand Anja Verbeek von Loewis in früheren Jahren in den indischen, japanischen und arabischen Schriftzeichen. Wobei sich ihr abstraktes Zeichenvokabular mehr und mehr zu einem vollkommen eigenständigen, subjektiven Idiom entwickelt hat. Als „Credo“ betitelt Anja Verbeek von Loewis diese infolge einer Indienreise 1994 initierte eher ätherische Werkreihe, die ihrem universalen Anspruch auch im Format des Tondos eingeschrieben sein kann. Ein anderer, mehr dem Erdhaften und pastos Malerischen verpflichteter Werkkomplex offenbart hingegen krude Strukturen, Verwerfungen in einer aus reinem Pigment und teils auch aus Blattgold alchimistisch aufbereiteten Substanz. Eingelassen in die Malmaterie und dadurch wie von der archäologischen Lava der Geschichte überdeckt, finden sich diverse für Anja Verbeek von Loewis als ideelle Initialzündung dienende, organische Dinge: Stängel und Blüten von Pflanzen, wie etwa Gingkoblätter, Rosenblüten, dazu glitzernder Sand aus Flüssen, toskanische Erden oder Steinpartikel aus dem Roussillon. Und zur nachhaltigen Konservierung schließt sie ihre Fundstücke aus der Natur in einem speziell entwickelten Enkaustik-Verfahren ein . Prima Vista könnte man meinen, dass Welten zwischen dieser transzendental schimmernden „Aurora“-Malerei und den atmosphärischen Zeichenbildern liegen. Doch es gibt ein unsichtbares Verbindungsglied, das die beiden Sektoren der Abstraktion zusammenschweißt: Es ist der Dualismus zwischen elementarer Erdanziehung und kosmischer Himmelsschau, der die introspektiv gespiegelte, strukturalistische Weltwahrnehmung künstlerisch zum Einklang bringt. Anja Verbeek von Loewis sagt dazu:
„Die Bilder haben dann etwas Seismographisches an sich, wenn es mir gelingt, dass sie tatsächlich in einer gewissen Vibration zu atmen und zu leben beginnen.“
Fast fühlt man sich an Goethes Metamorphose-Vorstellung erinnert. Denn ähnlich wie der deutsche Dichter in seinen eher naturwissenschaftlicheren Schriften die Idee eines „Urorgans“ oder eines „archetypischen Organs“ verfolgte, sucht auch Anja Verbeek von Loewis in ihrer Kunst so etwas wie Urbilder herauszudestillieren. Goethe zufolge sind die Urorgane in ihrer gedanklichen Abstraktion weder rein innerlich im Sinne des Subjektivismus fassbar noch rein äußerlich, also objektiv sichtbar, sondern sie erfordern quasi eine Kontemplation beider Seinszustände. In einer dritten, aquarellierten Werkreihe namens „Inbilder“ macht Anja Verbeek von Loewis wiederum das Urbildhafte des Menschen im Nachklang auf die für sie seit einem Kindheitserlebnis in Altamira sehr eindrückliche Höhlenmalerei manifest. Als rhythmisch beschwingte, teils mit Flügeln ausgestattete Figurationen, als tanzende Schattengestalten reflektiert sie ihre menschlichen Urgestalten wie im Fluss der Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft wandelnd.
„Es ist für mich wie ein Ausdruck von einer Erinnerung an einen Menschen, der ein ganz bestimmtes Innenbild, eine Energie umreißt“, sagt Verbeek von Loewis. Und weiter: „Dieser Gesamtklang ist von allem Persönlichen befreit, also auch meist von Gesichtern“
Das einzige Sichere im Leben wie in der Natur wie in der Kunst ist die Konstante der Veränderung. Man muss weder einer bestimmten Schule angehören noch esoterisch werden, um dieses Gesetz auf durchaus flirrende, souveräne Art in Verbeek von Loewis Bildern projiziert zu finden. Ohne jemals filmisches Material zu beanspruchen, versetzt sie ihre von dem Existenzgrund her eruierten, abstrahierten Formgebungen in ein dynamisches Schwingungsverhältnis. Sie erzeugt tatsächlich selbst dort eine Art Fluidum, wo sich die rohe Materie der Erde herausschält oder körnige Partien der Pigmentmaterie verletztlich wie die alten Schichten einer Wand abzublättern drohen. Anja Verbeek von Loewis setzt bewusst wertvolle mineralische Materialien, wie unter anderem reines Gold ein, um auch die Werthaltigkeit jedes einzelnen Bildobjekts zu indizieren. Als Energieträger von auratischer Kraft fungieren sie als Beweisstücke für den großen unteilbaren Organismus der (außer-)irdischen Welt.
Birgit Sonna
Katalog, 2012